Sauerlandkurier, 22.06.2017
Autor: Crauss
SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 1-3
1
Peter Geist findet negative beurteilungskriterien, wenn es um gedichte geht: klischeereiches ( = unauthentisches) zeitgeistgestöhn, pseudopoetische bebilderung von thesen, stilposen und die soundsovielte imitation eines traklgedichtes.
2, die unschärfe loben:
überraschendes, fesselndes entsteht durch das herausreissen der dinge aus ihren geläufigen zusammenhängen, sagt Walter Benjamin; durch eine bewusst gewordene/ gezielt herbeigeführte unschärfe im welterleben (eine sehschwäche, das verlesen, missverständnise), so Jan Wagner entsteht eine präzision der vorstellungskraft, durch die selbstverständlichkeiten neu entdeckt werden.
das gehirn verknüpft/ assoziiert bei einem „denk“fehler zwar falsch, aber doch naheliegend.
3
was ich von einem gelungenen gedicht erwarte? dass es mich überrascht, fesselt, befremdet, dass es mich entdecken lässt: so, genau so etwas noch überhaupt nicht gesehen/ erfahren/ bedacht zu haben. dass sich die unbedingtheit des sprechens überträgt. das konzentrierte gegeneinander der worte, ihre berührung, umschlingung, ihr abstossen voneinander.
Crauss liest …
… Bastian Schneider: Irgendwo, jemand.
Die Kölner Parasitenpresse veröffentlicht seit 17 Jahren deutschsprachige Lyrik als altpapiergeheftete Bücher und Lyrik-Taschenbücher aus BeNeLux und Südamerika.
Einer der konzentriertesten Bände ist der vor kurzem erschienene Doppelzyklus Irgendwo, jemand des in Siegen geborenen Bastian Schneider. Die Gedichte nähern sich dem großen Thema dieser Zeit: Flucht und Migration, und wie wir uns dazu verhalten, wie wir darüber reden und was wir unterlassen zu tun. Die Texte sind der Versuch, eine Sprache zu finden angesichts einer globalen Herausforderung, der man bisher nur unzureichend gerecht geworden ist.
An einer Hauswand steht // Zugvögel raus / irgendwo sind Menschen auf der Fahrbahn / das Mittelmeer ist eines der kleinsten Weltmeere / jemand spricht von sicheren Staaten / Menschen und Zugvögel kann man verwechseln, manchmal (…)
Bastian Schneider: Irgendwo, jemand. Gedichte, 14 S., 6,- € (Lyrikreihe Bd. 38)
Populäres Gedicht Nr. 17
Mr. Amerika
geh doch endlich wieder weg
du bist wirklich nur noch
der letzte Schrott
in deinem
feuerfesten Maßanzug aus
Super-super-kryptonit-Stoff
auch wenn du dich in deinem
eigenen Kopf ab und zu so
einsam fühlst
wie ein verloren-
gegangenes Popkorn […]
[…] während du nichts anderes
von dir gibst als ein millio-
nenfach gesteigertes
POW
WOW
da bin
ich
und
erlöse euch
alle
im
Namen
des
großen
amerikanischen
Hau.
Rolf Dieter Brinkmann in: Die Piloten. Gedichte, 1968
Crauss ist mit Keppel Kreativ unterwegs. Lesungen und Konzert in Hilchenbach
SCHÖNER SCHREIBEN, authentizität und geschmacksurteil
die echtheit, also authentizität eines textes kann sich durch geringe phrasenhaftigkeit, durch geringe verwendung hochgestochener sprache ausdrücken. hier steht authentizität für einfachkeit. echtheit liegt etwa auch im widerstand gegen einen gewissen zeitgeist.
das geschmacksurteil ist kein rein subjektives, das im belieben des einzelnen steht, vielmehr gibt es objektive, also im objekt liegende kriterien, die das ästhetische urteil aus der rein subjektiven sphäre herausheben, sagt Kant. diese kriterien führen zu einer vergleichbarkeit mit anderen werken.
in der kunst wird nicht der gute wille zum ausdruck gebracht, sondern ein stück menschlicher innenwelt mit allen facetten.
appenzellerland 2016
SCHÖNER SCHREIBEN, originalität
originalität/ grenzüberschreitung ist nicht zu verwechseln mit dem „originellen“ als interessantheits-kriterium. ein werk soll ausser welthaltig zu sein der realität etwas neues, eigenes hinzufügen.
zeichen der originalität kann zb. etwas spezielles innerhalb einer figur sein. deutliche beispiele nicht-originaler, sondern eher schablonenhafter charaktere finden sich in groschenheften.
man erwartet von der kunst, dass sie dem bekannten etwas bislang ungestaltetes, etwas neues abtrotzt. gute literatur darf sich nicht in wiederholung erschöpfen, selbst leser, die nur auf unterhaltung aus sind, erwarten von einem buch etwas neues. das unbekannte kann gleich neben dem bereits geformten lauern.
SCHÖNER SCHREIBEN, interessantheit
würden wir bei einem gereimten gedicht das jeweils nächste wort mit sicherheit voraussagen können, wäre das gedicht langweilig. ohne den aufbau einer erwartungsspannung würden wir nicht weiterlesen.
das wertkriterium verlangt, dass literatur nicht langweilig, sondern originell sei. das kann bei gedichten eine sprachliche schönheit sein, die spannung einer erzählung (wie geht sie aus) oder die geweckte neugier auf einen erkenntnisgewinn (was will mir ein experimenteller/ handlungsloser text vermitteln).
reibungen und härten sollen nicht vorhersehbar sein.
russsischer zopf – und pflanzen rasen
Friedrike Mayröcker: und Pflanzen rasen … in: Die Hölderlin Ameisen. Vom Finden und Erfinden der Poesie. Hg. v. Manfred Enzensperger. Köln: DuMont 2005
Geschrieben hat Friederike Mayröcker dieses Gedicht am 23. und 24. Juni 2004. Das Craussgedicht, auf das sie sich bezieht, wurde in LAKRITZVERGIFTUNG als auch in Mayröckers meine 25 lieblingsgedichte (styria verlag 2012) abgedruckt und ist hier nachzuhören (mp3).
russischer zopf / und dann im november
jemand schaut skeptisch auf deinen
kakau und geht pissen. ganz gelbe gestalten strömen
die stube vom trottoir her, der hüftknochige bube
kann kaum halten, was die schlingernden jeans dir
versprechen. zwei zimtwangen scheinens zu wissen,
an der wand strahlt egoïste in riesigen minuskeln,
blau, breit. betrunken sucht jemand nach platz. dann
maszloser regen. die sredzki, versunken, im arm einer
golden rushhour.
jemand nimmt sich was raus, rennt auf und davon
zur husemannstrasse, die russischen locken schon
nass. dann eine pause im müden geplätscher, die
stimmung ganz weich, die blase bloss voll. die eben noch
lachten, bestellen schnell neu. der durstige speit, dann
wird was frei (dein kakau beinah kalt). ein pärchen hält ein:
im fenster spiegelt der bratapfelrote schankstubensohn.
die abrechnung im stehn, das fazit beim heimweg – es ist
überall schön, nur hier ist es gleich.
SCHÖNER SCHREIBEN, ambiguität
dort, wo dichtung eindeutige aussagen macht, ist sie selten gross und tief. am wahrhaftigsten ist sie, wo sie ein gestochen scharfes röntgenbild (die formulierungen, textaufbau etc) liefert, die diagnose aber offen lässt.
ein werk kann zu anfang komplex wirken, dann besteht der genuss daran aus einem im fortlauf leichteren lesen. es besteht hier aber die gefahr der langeweile.
ein werk kann hingegen eine sich im verlauf steigernde komplexität haben, dann besteht der genuss aus einem sich allmählich entwickelnden verstehen.
trotz mehrdeutigkeit/ ambiguität muss ein werk jedoch nicht schwierig zu lesen sein. mehrdeutig, das heisst auch: tiefsinnig kann auch eine simple story sein oder ein werk, das sich (aus unterschiedlichen gründen, aber aus gründen) selbst widerspricht. aus einer (überwindbaren) widerständigkeit ergibt sich genuss.
appenzellerland 2016
KOMMUNIKATION, hallo was
geister in wismar
SCHÖNER SCHREIBEN, allgemeingültigkeit
typen, also nach eigenschaften typische, dh: einseitig gezeichnete charaktere, sind weniger interessant als differenzierte individuen.
allgemeingültigkeit bezieht sich aus dem was eines werkes, das durch das wie der form verstärkt wird. sie kann beispielsweise in der literature engagée, in politischen oder zeitnahen geschichten vorkommen (etwa Bölls Katharina Blum).
SCHÖNER SCHREIBEN, welthaltigkeit
die dichterische gestaltung von welt hat zwei dimensionen: fülle und tiefe.
der autor kann sich entscheiden zwischen der abbildung einer mehr oder weniger detaillierten aussenwelt und – als spiegelung – einer individuellen innenwelt.
die gefahr zu grosser welthaltigkeit ist das abgleiten ins bloss stoffliche, also die schilderung nicht weiterführender details und motive.
Cees Nooteboom meint: es ist ein stupider irrtum, dass nur, was wirklich weit weg ist, auch exotisch wäre. exotisch ist das, woran man im prinzip nicht teilhaben kann.
es gibt also auch in der kneipe um die ecke oder in der nachbarwohnung (innen)welten zu entdecken!
hineingeworfen in diese landschaft
time remembered: lyrikjazz
seit 1979 gibt das jahrbuch der lyrik einblick in neueste entwicklungen der poesie in deutschland, österreich und der schweiz; für die 31. ausgabe konnte Christoph Buchwald die lyrikerin Ulrike Almut Sandig als mitherausgeberin gewinnen. gemeinsam haben sie die besten zeitgenössischen gedichte ausgesucht und in thematischen kapiteln zusammengestellt.
neben Crauss mit einer übertragung des jazz-stücks time remembered/ erinnerte zeit von Bill Evans und Paul Lewis sind im lyrikjahrbuch ua. Lea Schneider, Johannes Kühn, Carl-Christian Elze, Björn Kuhligk, Yevgeniy Breyger, Julia Trompeter und Greta Ganderath vertreten.
ADAM GREEN in GRÜNDAU
es muss kurz nach der veröffentlichung des kleinen büchleins mit drei dorfgeschichten gewesen sein, als Adam Green, unanständiger singersongwriter auf dem höhepunkt seiner karriere, keinen besseren platz für ein autogramm fand als auf der rückseite der frau von gründau.
“es sei eine helle aufregung gewesen im dorf. einige männer hätten sich lautstark gewehrt gegen die vermutung, man habe etwas zu tun mit dem leichenfund. ein verbrechen in usnerem dorf? unmöglich! ob er, der postbote, denn nicht ein stück näher herangekonnt hätte, um ihr gesicht zu sehen? dabei hätten die männer tiefe züge aus ihren krügen genommen.”
meine lieblingswirtin, die 2006 zum Adam Green konzert ging und das autogramm für mich erjagte, muss jedenfalls ziemlich dicht herangekommen sein …
das heft ist weiterhin bei sukultur zu haben! neben der titelgeschichte geht es um “aufgeplatzte, angeschwemmte leiber” und eine bayerische “nacht in szenen”.
GLORY HOLE: EIN SCHARFES BILD
GLORY HOLE – nachrichten von drüben wurde 2013 vom schriftsteller Max Höfler gegründet und ist ein sogenanntes leinwandliteraturmagazin, das jede nacht auf die aussenleinwand des forum stadtpark in graz projiziert wird. mittlerweile gibt es xxxvi ausgaben, das aktuelle loch wird von Clemens Schittko bespielt. Crauss hat aus issue xiv ein scharfes bild gemacht. das video gibts hier.
Crauss liest … fleurs, oder: unverblümtheit
Crauss liest … Harry Martinson: REISE OHNE ZIEL
die moderne kommunikationstechnik wird uns kontinuierlich in eine planetarische schule für einen neuen, lebendigen und fruchtbaren nomadismus führen. die eng miteinander kommunizierenden weltvölker und rassen der zukunft werden einmal, mit einem gewissen respekt vor der dickleibigkeit, ehrlich über den untergangskatalog lachen und über die kulturen, die sich nicht aufzulösen (und unterzugehen) wagten.
Harry Martinson: reise ohne ziel (1932/33). aus dem schwedischen von Verner Arpe und Klaus-Jürgen Liedtke. mit einem nachwort von Klaus-Jürgen Liedtke neu herausgegeben. berlin: guggolz verlag 2017
“es war, ohne dass wir es wussten,
der beginn einer leisen revolte der zärtlichkeit”
1935 WOLFGANG POPP 2017
wozu
IDIOME X: DEVOT & AUSGELUTSCHT
»Erst im Augenblick, da das Korsett des gewohnten Erzählens in alltäglichen ›Skripts‹ und des sukzessiven Beschreibens dekonstruiert oder zersprengt wird, wird eine ›Prosa‹ möglich, die auf Augenhöhe mit der verwirrenden Vielgestalt der Sprechweisen, Welt-, Selbst- und Erfahrungskonstruktionen operiert, anstatt sie ins Handtaschenformat illusionistischer Geschichten und Beschreibungen zu ›übersetzen‹. Erst so wird eine ›Prosa‹ als eigensinnige Gattung möglich, weil diese Texte die turbulent durcheinander wirbelnden Splitter von etwas, das singularisch ›Wirklichkeit‹ zu nennen nur ein Notbehelf oder unbeholfener Tröstungsversuch ist, als Herausforderung unserer Text- und Erkenntnisbegriffe annehmen können.« Das schreibt in einer grundsätzlichen Überlegung zum Gattungsbegriff Sebastian Kiefer, der neben Jordis Brook/Stefan Schweiger, Lucas Cejpek, Li Mollet, Walter Pilar & Ronald Pohl. Friederike Kretzen (über Peter Weiss) die Nummer 10 des von Florian Neuner herausgegebenen Hefts für Neue Prosa feiert.
Weiter gibts in IDIOME Eigensinniges und Unvollständiges in Bild und Text u.a. von Tone Avenstroup, Peter Engstler, Sabine Hassinger, Urs Jaeggi, Christian Steinbacher & Elisabeth Wandeler-Deck zu Begriffen wie Abfall, Banalität, Freiheitsentzug, Zufall oder Zunahme.
Crauss hat sich Gedanken zu freiwilligem Freiheitsentzug – also z.B. devotem Fetisch – gemacht und unterwürfige Männer nach ihren Vorlieben, Träumen und dem Bezug ihres Fetischs zu real angewandter Unterdrückung Andersfühlender außerhalb, aber auch innerhalb Europas befragt. Die Zeichnungen dazu liefert Jörg Gruneberg.
DEVOT & AUSGELUTSCHT: ICH IST EIN FETISCH
hallo, ich bin thomas meinecke und denke »an den knast namens sexualität, der manchmal als lustvolle unterdrückung funktionieren kann: ein ausacten von zwangssystemen in einem lustvollen rahmen.«
mein online nick ist dr. psycho. dieser name begleitet mich schon seit meinem 16ten lebensjahr als ich das erste mal öffentlich aufgelegt hab als tekkno dj. und seit ein paar jahren hab ich dieses pseudonym auch als sklave übernommen, heisst … ich bin kein üblicher sklave, das wäre mir zu langweilig. ich bin fussdiener.
[…]
wenn du nach der richtigen bezeichnung für mich fragst … naja … da bin ich sehr flexibel, was das angeht. ich lasse mich so bezeichnen, wie der dominante es mag. wobei mir minderwertiges SEX stück noch am besten gefällt, am liebsten werde ich aber als drecksnuttenvotze bezeichnet. ich bin sklave oder diener. entscheiden tut das aber der master.
ich bin 43 jahre.
20.
36.
47.
gegenwärtig bin ich 71 jahre!
36 jahre.
ich bin momentan noch 44, das ändert sich nächsten monat. doch was ist alter! ungelogen, ich kenne wirklich niemanden, der mich bisher auf dieses alter geschätzt hat.
[…]
schon als kind habe ich mir schmerzen zugefügt und im wald gezeigt. ich habe mir den schwanz am baum festgebunden und spannung erzeugt und sperma vom gebrauchten kondomen geschleckt, bin nackt durch den wald gelaufen.
[…]
Den kompletten Text gibts nur in IDIOME X
schonungsloses zögern
die leipziger messe ist nun schon wieder einige tage vorüber, ja ja, sie war ein ereignis, auch diesmal. aber es gab eindeutig zuviele bücher. eine wohltat, dass es in der lyrikbuchhandlung – einem der tausend veranstaltungsorte – ausschliesslich gedichte zu hören, stöbern und kaufen gab. auf Safiye Cans neuens buch kinder der verlorenen gesellschaft freue ich mich noch – die autorin hat vollkommen zurecht den Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis sowie den AMF-Preis für aufrechte Literatur 2016 bekommen und bereits 2014 mit ihrem debut rose & nachtigall einen der besten lyrikbände mit liebesgedichten der letzten zehn jahre präsentiert – mittlerweile in der fünften (!) auflage.
die ganz unerwarteten lieblinge aus leipzig hatte ich aber bereits kurz nach der heimkehr verschlungen. mit vergnügen und erstaunen. Niklas Bardeli las ende märz in der lyrikbuchhandlung in lindenau (leipzig) und hinterliess einen eindruck, den zuletzt Mathias Traxler 2011 erzeugt hatte: “die lesung hiess lyrik an salatdressing oder so ähnlich, meine schlimmsten befürchtungen wurden erfüllt, geradezu verliebt machte mich aber Traxler mit seiner performance, einem applaus auf die unsicherheit, wie er es nennt. der autor hatte einen stapel nichteigener bücher auf dem lesetisch, pickte sich hin und wieder eine sentenz aus diesen büchern heraus und fügte sie den eigenen, spartanischen texten zu, stand da, drehte sich, ging ein paar schritt ins dunkle und verwischte die übergänge zwischen lesung, moderation und tanz. grossartig, gerade wegen der eleganz, die das hatte – und viel zu kurz; ein jammer. ein jammer auch, dass sich so etwas nicht schriftlich wiedergeben lässt, gleichwohl Traxlers buch you’re welcome in ähnlicher weise mit pausen arbeitet, auslassungen, mit Novalis’schem blüthenstaub.” (zitiert aus SCHÖNHEIT)
Bardelis performance war schlichter, und doch ebenso intensiv: worte, zögern, pausen, pausen, ausstreichen und vorwärts hasten. leider sind die aktuellen hybride – gedichte in blocksatz – noch garnicht erschienen, Bardeli ist ein langsamer schreiber offenbar, und vorsichtiger veröffentlicher. immerhin hatte der hochroth verlag aber den vorherigen band illustrationen parat: “schonungslos erbarmten sich meiner vier männer, von beruf stellmeister, die ihre arbeit verstanden, als hätten sie nie etwas anderes getan …” das gilt für die weichner wie es für den dichter gilt!
ein anderes schätzchen wäre im normalen buchchaos der messe nicht absichtlich aufzustöbern gewesen, und auch das link-verfolgen im netz wird einem nicht sehr leicht gemacht: loner4ever wollte gefunden werden – und das passt auch sehr gut zu den überaus witzigen poemen, die man im gleichnamigen blog nachlesen kann. der kanadische graphiker Vincent Hulme hatte seine “collection of failed attemps at wooing his/her heart” im berliner pogo books verlag unter dem motto “one canadian / too many beers later” drucken lassen, bei der präsentation der design-heftchen in der hochschule für grafik und buchkunst lag es dann etwas unscheinbar herum:
“meet girl thru friend / talk to her all night / ask for her number // gives me one / then tells me to delete it / and to take this other one instead // think its fake / never call her // two weeks later / friend asks me / yo, why didnt you call her …” – “meet girl at a naked party // don’t have a piece of paper …” undsoweiter. very komisch, absurd und wahr.
eigentlich hatte ich mir auch noch eine besprechung von Clemens Schittkos letzten beiden büchern vorgenommen, das “rasseln mit der assoziationskette”, wie es im deutschlandradio hiess, wurde mir dann aber trotz Binkmann-beat in manchen texten schnell langweilig: zu sagen “dieses gedicht ist ein gedicht, / weil ich es sage”,ist zwar eine haltung, die mir taugt, trotzdem sind untereinandergeschriebene einfälle noch kein gedicht. wieviel Schittko erträgt Schittko eigentlich? habe ich mich bei der lektüre von ein ganz normales buch gefragt. “ich kann es nicht mehr hören / ich kann es nicht mehr sehen / es kotzt mich nur noch an / und dann dieses geplapper / dieses gelaber” heisst es in der fünf seiten langen suada dumm.
“ich provoziere / ich provoziere …” schreit der autor. und ich ermüde! aber gerade das ist es: mein fehler. nicht Schittkos. und zwar: den versuch unternommen zu haben, den band als ganz normales buch in einem rutsch zu lesen. es kommt halt auf die dosis an, glaube ich. lieber einzelne langläufer als ein pulk demonstrierender schleicher. Clemens Schittko schreibt grossartige – und dann auch mehr politisch einwirkende (nicht politische) texte -, wenn er monoton schreibt und nicht zu viele wendungen versucht. beispielsweise im nsa-stück vom 04.10.2013, das im ritter-buch weiter im text erschien und in dem übrigens neben vielen vielen anderen die oben bejubelte Safye Can wieder vorkommt:
“Safye Can gefällt Dincer Gücyeters link. / Safye Can hat buchmesse RUHR – RUHR Kitap Fuans foto geteilt …” so gehts 21 seiten lang weiter, und ist trotzdem weniger unaushaltbar als die jammer-poesie im normalen buch. wo Schittko listen schreibt, lange listen, gelingt es ihm, an die sollbruchstelle der gesellschaft heranzukommen. egal, wie sehr er behauptet, dies nicht zu wollen.
erwarte nicht viel mehr als menschen
Walter Arnold hat mehr als 60 gedichte über kiel zusammengetragen. bekannte dichter der letzten jahrhunderte (Fontane, Liliencron, Groth) kommen in zu wort. aber auch junge talente*, die bis heute ihre lyrik vortragen und veröffentlichen (Arne Rautenberg, Björn Högsdal, Marcel Beyer, ögyr). der hübsche kleine band zeigt, wie vielfältig kiel immer war und bis heute ist. obgleich als hässlich verschrien: es wird andere qualitäten haben.
Crauss ist mit einer kurzen, traurigen skizze dabei, die man auf ögyrs schwungkunst, nämlich im klavki fundus nachhören kann. der 2009 verstorbene dichter klavki hielt die welt für “ein ewiges gedicht” und kämpfte bis zum letzten atemzug für mehr poesie in den menschen.
*diese formulierung des verlags kommt leider einer diskriminierung der arbeit der genannten dichter sehr nahe, die sämtlich – und zwar seit jahrzehnten, und zwar weit – über den status des hobby-talents sich hinausentwickelt haben! typischer lokalpressen-sprech. so etwas möchte ich jedenfalls nie wieder auf mich selbst bezogen wissen.
we are stardust
we are golden
we are billion-year-old carbon
and we’ve got to get ourselves
back to the garden
Crosby, Stills, Nash, Young, Mitchell
WOODSTOCK
ick kieke, staune, wundre mir …
berliner eck / kneipe, wo du schief anjesehn wirst wennde dein notizzbuch zückst … schreibt Crauss in seinem beitrag zur gerade erschienenen anthologie “berlinerischer gedichte von 1830 bis heute”: jibbter’n trinkjeld, isser nich von hier …
über vierhundertsechzig seiten gedichte haben Thilo Bock, Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki für die andere bibliothek zusammengetragen.
neben den Glaßbrenners, Fontanes, Böttichers, Klabunds und Kerrs sind ua. dabei einige Wawerzineks, Papenfüße, Tschirpkes, und Endlers.
Crauss’ berliner eck stammt ursprünglich übrigens aus der LAKRITZVERGIFTUNG, die als fleissiger dauerseller bereits mitten in der zweiten auflage juicy transversions bietet.
Dorothy Parker: Ohne einen Groschen
natürlich, wenn ich ohne einen groschen bin, finde ich es superb. ich denke, dass die kunst eines landes auf unermessliche weise zu dessen prestige beiträgt; will man also, dass das land schriftsteller und künstler hervorbringt (personen, die in unserem land unsicher leben), muss der staat helfen.
die künstler sind teil ihres landes, und ihr land sollte das anerkennen, so dass sowohl es als auch die künstler auf ihre bemühungen stolz sein können. das mein ich wirklich so, liebes.
Dorothy Parker im interview mit paris review 1956;
die paris review interviews – 01; london, berlin: edition weltkiosk 2016