SCHÖNER SCHREIBEN
nichts was Sie sich ausdenken wird so haarsträubend sein wie das, was Sie von anderen menschen erzählt bekommen. [W.G. SEBALD]
ich könnte Ihnen etwas von random-elementen in meinen texten erzählen und dass ich mein wortmaterial auflade, atomisiere, deformiere, dass ich collagen… mache, dass ich verba substantiviere, substantiva verbalisiere, dass ich eine armee von satzzeichen einsetze, um sie attackierend, lockend, besänftigend [verzögernd] funktionieren zu lassen, dass ich wiederholungen verwende, vor allem […]
die formulierte welt mit halbem ohr hören, und so das zeremonium verquer stellen, heisst doch wohl: die welt anders zusammensetzen, sie schräg von unten oder halbwegs links von oben sehen – heisst doch wohl: in diesem moment einmal wieder sehen. [ERNST JANDL]
schreiben heisst, bisher unerhörte/ nicht gesehene dinge zu entdecken. geht es nicht darum, besteht kein anlass zu schreiben. sei unbedingt experimentierfreudig – aber lass den leser an deinem experiment teilhaben. schreibe über obskure dinge, aber sei nicht selbst obskur. [W.G. SEBALD]
ich schalte, um meine maschine in gang zu bringen, auf erinnerungspunkte irgendwelcher vergangenheit, bringe dadurch etwas ganz intensiv in die mitte meines bewusstseins, wo es lebendig dasteht, zu sehen, hören, riechen, betasten, und in einer eigenbeweglichkeit, die es aus dem zustand des eingebettetseins in einen erinnerungsablauf befreit. [F. MAYRÖCKER] nicht […]
form 3 vermeiden Sie adjektive; sie blähen eine geschichte allzu sehr auf, wo man mit starken verben ebensoviel erreicht: er verschlang die nudeln statt er aß laut und ungeduldig die nudeln
form 2 lange sätze bewahren Sie davor, andauernd die figur beim namen zu nennen (Gertie tat das, Gertie fühlte jenes). andererseits kann sich eine noch so banale handlung leicht in zu langen sätzen verheddern. benutzen Sie das wort und so selten als möglich, versuchen Sie, sätze variantenreich zu verbinden.
form 1 machen Sie unbedingt absätze. kleine happen lassen sich besser verdauen. auf einer grossen, einheitlichen textfläche gleitet das auge aus – und aus dem text heraus.
achten Sie darauf, ein unmotiviertes oszillieren der erzählzeit zu vermeiden. wenn Sie in der vergangenheitsform beginnen, sollten Sie auch mit ihr enden. tempuswechsel können sinnvoll, müssen aber motiviert sein. ein (befristeter) wechsel von präteritum in präsens kann einer story mehr geschwindigkeit/ „näheres dransein“ an der aktion verleihen (zb wie bei […]
dialekte macht aus normalen wörtern eine andere, seltsame sprache (zb. ‚Jessas’ für ‚Jesus’). [W.G. SEBALD]
erzählen Sie mehr, aber formulieren Sie weniger! jeder satz für sich genommen sollte etwas bedeuten. eine schrift sollte nicht den eindruck vermitteln, dass der verfasser poetisch sein wollte. [W.G.SEBALD] es bedeutet etwas anderes, ob eine frau sagt ich bin schwanger, oder ob sie sagt: ich bekomme ein kind – und […]
seltsame begebenheiten sind interessant für die handlung [W.G. SEBALD] es ist stets befriedigend, beim lesen einer geschichte etwas zu lernen. Dickens hat das eingeführt: der essay brach in den roman ein. dennoch sollte man „fakten“ im roman nie trauen – sie bleiben, trotz allem, fiktion. [W.G. SEBALD]
es gibt zwei möglichkeiten, eine handlung zu entwickeln: erst existiert die story, dort hinein wird die figur geschrieben. sie entwickelt sich sozusagen an der handlung entlang (zb Rocky: ausgebrannter boxer erhält die chance zum comeback) zunächst existiert eine figur, aus deren charaktereigenschaften/ konflikten mit der umwelt sich eine handlung ‚ergibt’
in einer geschichte kommen meist zwei arten von handlung vor: eine physische aktion (zb. ein diamantenraub / eine verfolgungsjagd); andererseits aber auch eine emotionale aktion, die sich aus der physischen speisen oder sie bestimmen kann. wie geht es der figur, was denkt sie ohne es zu äussern?
das äussere leben speist sich aus dem inneren leben und aus einer backstory wound (schlagen Sie den begriff in einem lexikon für filmbegriffe nach): etwas, das der figur vormals geschehen ist, nicht erzählt wird, sondern aus dem erzählten geschlossen werden kann und ihr handeln oder denken bestimmt. „man denke etwa […]
das (von anderen figuren sichtbare) äussere leben wird in der erzählten story vermittelt. was man einer figur maximal zumuten kann, hängt unter anderem von der art des textes ab. die fallhöhe einer handlung (mehr staffage als story/ unrealistischer verlauf) vergrössert sich, je mehr man seinen figuren zumutet.
die figur hat ein inneres leben, auch wenn der text nicht explizit davon spricht. sie hat eine vorgeschichte von ihrer ‚geburt’ bis zum beginn der erzählten story; diese biographie formt ihren charakter!
das wetter ist durchaus nicht überflüssig in einer geschichte (W.G. Sebald). es kann das gemüt der figur beeinflussen oder eine handlung verstärken/ unterstreichen (wie zb. in Karen Duves regenroman) oder James Lee Burkes mississippi jam: »es war ein merkwürdiger tag auf dem meer gewesen. der wind kam heiss und trocken […]
figuren brauchen details, die sie im gedächtnis des lesers verankern (W.G. Sebald). beispiel: „der busfahrer war ein dicker karpfen mit einem schnurrbart.“ die romanschriftsteller irren sich, wenn sie glauben, dass ihre leser sich immer wieder die mühe nähmen, die von ihnen sorgfältig beschriebenen gesichter im geiste nachzuzeichnen.wenn ich lese, sein […]
auch wenn Sie von sich selbst schreiben: unbedingtes abgewöhnen des ICH: FIGUREN erfinden! so entstehen texte, in denen nicht nur dem ICH etwas passiv geschieht, sondern personen, die aktiv und bewusst handeln. (zuviel ichizismus) schaffen Sie originale figuren! jeder mensch ist individuell, daher sollten auch charaktere in geschichten einzigartig sein. […]
erst nachdem der ort festgelegt ist, treten die figuren auf. der ort kann durch ein winziges detail bestimmt werden, etwa: „er sitzt still“ (offener oder geschlossener raum, stuhl oder bank, fokus auf einem einzigen sitzplatz)
ort und zeit sind die knackpunkte der narrativen künste: alles geschieht gleichzeitig, der autor muss sich aber notgedrungen auf eine reihenfolge festlegen. um sich nicht gleich am anfang zu verheddern, muss der autor eine rigorose entscheidung treffen, indem er etwa den ort mit namen nennt oder ihn durch die zeit […]
eine enge erzähl- oder handlungsstruktur eröffnet möglichkeiten. nehmen Sie ein erzählmuster oder ein genre und schreiben Sie sich aus ihm heraus. (W.G. Sebald) Karen Duves regenroman ist zu beginn ein krimi, in der mitte erotisch und ein ganz anderer krimi am Ende.
eine gute zeichnung muss wie ein flechtkorb sein, aus dem man keinen halm herausnehmen kann, ohne ein loch zu hinterlassen. —Henri Matisse 1939
der dichter schreibt niemals irgendetwas, sondern er schreibt immer etwas bestimmtes. (Michael Niehaus)