“es war, ohne dass wir es wussten,
der beginn einer leisen revolte der zärtlichkeit”
1935 WOLFGANG POPP 2017
“es war, ohne dass wir es wussten,
der beginn einer leisen revolte der zärtlichkeit”
1935 WOLFGANG POPP 2017
»Erst im Augenblick, da das Korsett des gewohnten Erzählens in alltäglichen ›Skripts‹ und des sukzessiven Beschreibens dekonstruiert oder zersprengt wird, wird eine ›Prosa‹ möglich, die auf Augenhöhe mit der verwirrenden Vielgestalt der Sprechweisen, Welt-, Selbst- und Erfahrungskonstruktionen operiert, anstatt sie ins Handtaschenformat illusionistischer Geschichten und Beschreibungen zu ›übersetzen‹. Erst so wird eine ›Prosa‹ als eigensinnige Gattung möglich, weil diese Texte die turbulent durcheinander wirbelnden Splitter von etwas, das singularisch ›Wirklichkeit‹ zu nennen nur ein Notbehelf oder unbeholfener Tröstungsversuch ist, als Herausforderung unserer Text- und Erkenntnisbegriffe annehmen können.« Das schreibt in einer grundsätzlichen Überlegung zum Gattungsbegriff Sebastian Kiefer, der neben Jordis Brook/Stefan Schweiger, Lucas Cejpek, Li Mollet, Walter Pilar & Ronald Pohl. Friederike Kretzen (über Peter Weiss) die Nummer 10 des von Florian Neuner herausgegebenen Hefts für Neue Prosa feiert.
Weiter gibts in IDIOME Eigensinniges und Unvollständiges in Bild und Text u.a. von Tone Avenstroup, Peter Engstler, Sabine Hassinger, Urs Jaeggi, Christian Steinbacher & Elisabeth Wandeler-Deck zu Begriffen wie Abfall, Banalität, Freiheitsentzug, Zufall oder Zunahme.
Crauss hat sich Gedanken zu freiwilligem Freiheitsentzug – also z.B. devotem Fetisch – gemacht und unterwürfige Männer nach ihren Vorlieben, Träumen und dem Bezug ihres Fetischs zu real angewandter Unterdrückung Andersfühlender außerhalb, aber auch innerhalb Europas befragt. Die Zeichnungen dazu liefert Jörg Gruneberg.
DEVOT & AUSGELUTSCHT: ICH IST EIN FETISCH
hallo, ich bin thomas meinecke und denke »an den knast namens sexualität, der manchmal als lustvolle unterdrückung funktionieren kann: ein ausacten von zwangssystemen in einem lustvollen rahmen.«
mein online nick ist dr. psycho. dieser name begleitet mich schon seit meinem 16ten lebensjahr als ich das erste mal öffentlich aufgelegt hab als tekkno dj. und seit ein paar jahren hab ich dieses pseudonym auch als sklave übernommen, heisst … ich bin kein üblicher sklave, das wäre mir zu langweilig. ich bin fussdiener.
[…]
wenn du nach der richtigen bezeichnung für mich fragst … naja … da bin ich sehr flexibel, was das angeht. ich lasse mich so bezeichnen, wie der dominante es mag. wobei mir minderwertiges SEX stück noch am besten gefällt, am liebsten werde ich aber als drecksnuttenvotze bezeichnet. ich bin sklave oder diener. entscheiden tut das aber der master.
ich bin 43 jahre.
20.
36.
47.
gegenwärtig bin ich 71 jahre!
36 jahre.
ich bin momentan noch 44, das ändert sich nächsten monat. doch was ist alter! ungelogen, ich kenne wirklich niemanden, der mich bisher auf dieses alter geschätzt hat.
[…]
schon als kind habe ich mir schmerzen zugefügt und im wald gezeigt. ich habe mir den schwanz am baum festgebunden und spannung erzeugt und sperma vom gebrauchten kondomen geschleckt, bin nackt durch den wald gelaufen.
[…]
Den kompletten Text gibts nur in IDIOME X
die leipziger messe ist nun schon wieder einige tage vorüber, ja ja, sie war ein ereignis, auch diesmal. aber es gab eindeutig zuviele bücher. eine wohltat, dass es in der lyrikbuchhandlung – einem der tausend veranstaltungsorte – ausschliesslich gedichte zu hören, stöbern und kaufen gab. auf Safiye Cans neuens buch kinder der verlorenen gesellschaft freue ich mich noch – die autorin hat vollkommen zurecht den Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis sowie den AMF-Preis für aufrechte Literatur 2016 bekommen und bereits 2014 mit ihrem debut rose & nachtigall einen der besten lyrikbände mit liebesgedichten der letzten zehn jahre präsentiert – mittlerweile in der fünften (!) auflage.
die ganz unerwarteten lieblinge aus leipzig hatte ich aber bereits kurz nach der heimkehr verschlungen. mit vergnügen und erstaunen. Niklas Bardeli las ende märz in der lyrikbuchhandlung in lindenau (leipzig) und hinterliess einen eindruck, den zuletzt Mathias Traxler 2011 erzeugt hatte: “die lesung hiess lyrik an salatdressing oder so ähnlich, meine schlimmsten befürchtungen wurden erfüllt, geradezu verliebt machte mich aber Traxler mit seiner performance, einem applaus auf die unsicherheit, wie er es nennt. der autor hatte einen stapel nichteigener bücher auf dem lesetisch, pickte sich hin und wieder eine sentenz aus diesen büchern heraus und fügte sie den eigenen, spartanischen texten zu, stand da, drehte sich, ging ein paar schritt ins dunkle und verwischte die übergänge zwischen lesung, moderation und tanz. grossartig, gerade wegen der eleganz, die das hatte – und viel zu kurz; ein jammer. ein jammer auch, dass sich so etwas nicht schriftlich wiedergeben lässt, gleichwohl Traxlers buch you’re welcome in ähnlicher weise mit pausen arbeitet, auslassungen, mit Novalis’schem blüthenstaub.” (zitiert aus SCHÖNHEIT)
Bardelis performance war schlichter, und doch ebenso intensiv: worte, zögern, pausen, pausen, ausstreichen und vorwärts hasten. leider sind die aktuellen hybride – gedichte in blocksatz – noch garnicht erschienen, Bardeli ist ein langsamer schreiber offenbar, und vorsichtiger veröffentlicher. immerhin hatte der hochroth verlag aber den vorherigen band illustrationen parat: “schonungslos erbarmten sich meiner vier männer, von beruf stellmeister, die ihre arbeit verstanden, als hätten sie nie etwas anderes getan …” das gilt für die weichner wie es für den dichter gilt!
ein anderes schätzchen wäre im normalen buchchaos der messe nicht absichtlich aufzustöbern gewesen, und auch das link-verfolgen im netz wird einem nicht sehr leicht gemacht: loner4ever wollte gefunden werden – und das passt auch sehr gut zu den überaus witzigen poemen, die man im gleichnamigen blog nachlesen kann. der kanadische graphiker Vincent Hulme hatte seine “collection of failed attemps at wooing his/her heart” im berliner pogo books verlag unter dem motto “one canadian / too many beers later” drucken lassen, bei der präsentation der design-heftchen in der hochschule für grafik und buchkunst lag es dann etwas unscheinbar herum:
“meet girl thru friend / talk to her all night / ask for her number // gives me one / then tells me to delete it / and to take this other one instead // think its fake / never call her // two weeks later / friend asks me / yo, why didnt you call her …” – “meet girl at a naked party // don’t have a piece of paper …” undsoweiter. very komisch, absurd und wahr.
eigentlich hatte ich mir auch noch eine besprechung von Clemens Schittkos letzten beiden büchern vorgenommen, das “rasseln mit der assoziationskette”, wie es im deutschlandradio hiess, wurde mir dann aber trotz Binkmann-beat in manchen texten schnell langweilig: zu sagen “dieses gedicht ist ein gedicht, / weil ich es sage”,ist zwar eine haltung, die mir taugt, trotzdem sind untereinandergeschriebene einfälle noch kein gedicht. wieviel Schittko erträgt Schittko eigentlich? habe ich mich bei der lektüre von ein ganz normales buch gefragt. “ich kann es nicht mehr hören / ich kann es nicht mehr sehen / es kotzt mich nur noch an / und dann dieses geplapper / dieses gelaber” heisst es in der fünf seiten langen suada dumm.
“ich provoziere / ich provoziere …” schreit der autor. und ich ermüde! aber gerade das ist es: mein fehler. nicht Schittkos. und zwar: den versuch unternommen zu haben, den band als ganz normales buch in einem rutsch zu lesen. es kommt halt auf die dosis an, glaube ich. lieber einzelne langläufer als ein pulk demonstrierender schleicher. Clemens Schittko schreibt grossartige – und dann auch mehr politisch einwirkende (nicht politische) texte -, wenn er monoton schreibt und nicht zu viele wendungen versucht. beispielsweise im nsa-stück vom 04.10.2013, das im ritter-buch weiter im text erschien und in dem übrigens neben vielen vielen anderen die oben bejubelte Safye Can wieder vorkommt:
“Safye Can gefällt Dincer Gücyeters link. / Safye Can hat buchmesse RUHR – RUHR Kitap Fuans foto geteilt …” so gehts 21 seiten lang weiter, und ist trotzdem weniger unaushaltbar als die jammer-poesie im normalen buch. wo Schittko listen schreibt, lange listen, gelingt es ihm, an die sollbruchstelle der gesellschaft heranzukommen. egal, wie sehr er behauptet, dies nicht zu wollen.
Walter Arnold hat mehr als 60 gedichte über kiel zusammengetragen. bekannte dichter der letzten jahrhunderte (Fontane, Liliencron, Groth) kommen in zu wort. aber auch junge talente*, die bis heute ihre lyrik vortragen und veröffentlichen (Arne Rautenberg, Björn Högsdal, Marcel Beyer, ögyr). der hübsche kleine band zeigt, wie vielfältig kiel immer war und bis heute ist. obgleich als hässlich verschrien: es wird andere qualitäten haben.
Crauss ist mit einer kurzen, traurigen skizze dabei, die man auf ögyrs schwungkunst, nämlich im klavki fundus nachhören kann. der 2009 verstorbene dichter klavki hielt die welt für “ein ewiges gedicht” und kämpfte bis zum letzten atemzug für mehr poesie in den menschen.
*diese formulierung des verlags kommt leider einer diskriminierung der arbeit der genannten dichter sehr nahe, die sämtlich – und zwar seit jahrzehnten, und zwar weit – über den status des hobby-talents sich hinausentwickelt haben! typischer lokalpressen-sprech. so etwas möchte ich jedenfalls nie wieder auf mich selbst bezogen wissen.
we are stardust
we are golden
we are billion-year-old carbon
and we’ve got to get ourselves
back to the garden
Crosby, Stills, Nash, Young, Mitchell
WOODSTOCK
berliner eck / kneipe, wo du schief anjesehn wirst wennde dein notizzbuch zückst … schreibt Crauss in seinem beitrag zur gerade erschienenen anthologie “berlinerischer gedichte von 1830 bis heute”: jibbter’n trinkjeld, isser nich von hier …
über vierhundertsechzig seiten gedichte haben Thilo Bock, Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki für die andere bibliothek zusammengetragen.
neben den Glaßbrenners, Fontanes, Böttichers, Klabunds und Kerrs sind ua. dabei einige Wawerzineks, Papenfüße, Tschirpkes, und Endlers.
Crauss’ berliner eck stammt ursprünglich übrigens aus der LAKRITZVERGIFTUNG, die als fleissiger dauerseller bereits mitten in der zweiten auflage juicy transversions bietet.
natürlich, wenn ich ohne einen groschen bin, finde ich es superb. ich denke, dass die kunst eines landes auf unermessliche weise zu dessen prestige beiträgt; will man also, dass das land schriftsteller und künstler hervorbringt (personen, die in unserem land unsicher leben), muss der staat helfen.
die künstler sind teil ihres landes, und ihr land sollte das anerkennen, so dass sowohl es als auch die künstler auf ihre bemühungen stolz sein können. das mein ich wirklich so, liebes.
Dorothy Parker im interview mit paris review 1956;
die paris review interviews – 01; london, berlin: edition weltkiosk 2016
Crauss und Armin Nassauer beteiligen sich am diesjährigen Kunstwechsel mit Klangcollagen: Service-Loops, Glockenläuten, Live-Textperformances und Schallplattenimprovisationen sind vom 02. bis 04. Dezember neben Bildwerken der Kollegen und Kolleginnen in der 3. Etage des Sieg-Karrée in Krönchentown-City zu bestaunen und wertzuschätzen. Der Eingang zum Event ist auf dem Bahnhofsplatz zwischen WDR und Zara.
Alles über das Programm, die Zeiten und Beteiligten verrät die Website der Organisatoren: die Gruppe 3/55 engagiert sich seit Jahren für Kultur in Siegen. Danke dafür!
das fixpoetry express experimentiert mit neuen ansätzen in der digitalen literaturkritik. wer denkt wie und warum? was sagt der autor dazu? können Sie das nachvollziehen? interaktiv und transparent – eine demokratische debatte über literatur. zwei literaturkritiker, (Martin A. Hainz und Mario Osterland sind in der 6. folge der reihe mit Crauss über DIESER JUNGE. DIGITAL TOES im gespräch. das e_book ist erschienen im verlagshaus berlin in der edition binaer. diese bringt das gedicht in den virtuellen raum und wir nutzen genau diesen raum, um dem gedicht in die jungen augen zu sehen.
die lesereihe in guter nachbarschaft bringt seit 2014 etablierte autoren, literarische talente und musiker in jena, erfurt und weimar zusammen. mit der kombination aus lesung, konzert und offenem mikrofon ist die reihe fester bestandteil der thüringer literaturszene.
am 05.11.2016 ist Crauss ab 19:00 uhr im erfurter klubcafé Franz Mehlhose zu gast, um jungsgedichte und herrenprosa zu präsentieren. musikalisch wird der abend begleitet vom beeindruckenden sound aus folk und experimentellem elekro des erfurters littlemanlost. und wie immer steht autorentalenten für jeweils sieben minuten das offene mikrophon zur verfügung.
nicht alles, was richtig ist, ist auch verständlich.
die verständlichkeit eines textes beurteilt der leser: seine position, sein vorwissen, sein aufnahmevermögen sind zu bedenken.
formulieren Sie so genau wie möglich, aber nicht genauer als nötig.
wählen Sie wörter, die bekannt sind oder binden Sie vermutlich klärungsbedürftige begriffe so ein, dass ihre bedeutung sich aus dem zusammenhang erschliesst.
schachtelsätze provozieren die vermutung: viel verpackung, wenig inhalt. einfache reihungen hingegen sind wie eine schlaglochstrecke in der argumentation.
besonders wir deutschen leiden an hauptwörterkrankheit und verb-armut. das hauptwort bringt aber erstarrung, während beim zeitwort bewegung und geschwindigkeit liegt. lösen Sie hauptwörter verbal auf, wo es möglich ist!
viele nebensätze werden zu nebelsätzen! eine alte regel gilt auch für moderne texte: neuer gedanke = neuer satz.
finden Sie angemessene, aber nicht übertriebene worte. Mark Twain: „der unterschied zwischen dem richtigen wort und dem beinah richtigen wort ist der gleiche wie der zwischen blitz und glühwürmchen.“
machen Sie aus dem prinzip einen grundsatz: verzichten Sie auf fremdwörter, die leicht durch ein deutsches wort zu ersetzen sind. der thesaurus (als buch, im web oder integriert im schreibprogramm) hilft beim aneignen eines wissens- und wortspeichers.
seien Sie konkret, benutzen Sie Ihre eigene sprache. Kurt Tucholsky: „das geheimnis des guten redners: man brauche gewöhnliche worte – und sage ungewöhnliche dinge!“
eine dürftige geschichte bleibt dürftig, auch wenn Sie die formulierungen aufblasen.
Georg Christoph Lichtenberg meint dennoch: „ein guter ausdruck ist fast soviel wert wie ein guter gedanke.“
nutzen Sie Ihren passiven wortschatz aus. jeder von uns besitzt einen grossen passiven wortschatz und einen manchmal zu engen aktiven.
als langsam licht in seine augen zu dringen begann ist nicht poetisch, sondern schwülstig. weniger wäre mehr, zb bei sonnenaufgang; als er wieder zu sich kam; als er die augen wieder öffnen konnte etc.
das auge öffnen ist etwas anderes als die augen öffnen und wichtiger im kontext evtl ohnehin das, was “er” dann sieht oder an was er sich nach dem aufwachen erinnert.
anderes beispiel aus einem gefundenen text: gefährlich aussehende hörner – mit hörnern (egal ob am stier oder als hupe) assoziiert man automatisch gefahr, so ist es nicht notwendig, sie gleich gefährlich aussehen zu lassen.
Crauss war zu gast bei Tobi und Chris, dem MARGAYS on AIR team im livestream des RADIO UNERHÖRT MARBURG. jeden dritten und fünften sonntag im monat von 16:00 bis 18:00 uhr gibts ein lesbischwules programm mit aktuellem klatsch, kitsch und kulturellen highlights.
diesen sonntag (16.10.16) auf dem äther: Crauss mit seinem ebook DIESER JUNGE: sechsundzwanzig gedichte mit glossar, einem nachwort von Matthias Fallenstein und Crauss‘ aufsatz AUGUST und ACKER. über das entstehen der texte und das begehren von jungs unterhalten sich die radiomacher mit dem dichter. die aufzeichnung gibts später auch als mitschnitt.
ausdruck ohne formale bewältigung langweilt auf dauer!
allerdings sollte die intensität des ausdrucks nicht auf einer geraden liegen. die aufmerksamkeit des lesers muss sich immer wieder erholen können.
wechseln Sie die diktion: einmal straff, dann wieder aufgelockert. nicht jeden satz mit „schwerer kost“ belasten.
stimmig ist ein text, den sich autor wie leser in seiner substantiellen form nicht besser vorstellen können. das ist utopie. wer hats gesagt?
form und inhalt lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten, sie sollen aufeinander abgestimmt sein.
stimmig kann ein werk auch sein, wenn ein disparater inhalt durch eine inhomogene form gespiegelt wird.
100 küsse reichen noch nicht, 1789, alarm um nichts, als du nicht mehr warst, auf‘n kaffee zu mir, aufgeschnitten und aufgetischt, aus dem winterschlaf nicht aufgewacht, aus den gedanken eines lamas, ausgebrannt, barfuß im schnee, bei anruf oma, bis zur weißglut, bitte nicht orange, blau wie die tafel, blind wie die nacht, briefverwechslung, das baum-traum-haus, das kaugummi in deinen haaren, das leben durch den nebel, das licht ist das ende, das lied der see, das unbeschriebene blatt, das verschwinden der spinnen, das verschwundene buch, dein letzter tanz, den abflug verpasst, der alte wohnwagen, der anzug des richters, der code zum eintreten, der defekt, der einbeinige, der junge mit den gelben augen, der kaffee war im angebot, der kastanienvorfall, der kleine tiger dima, der knastpsychologe, der plastik-polizist, der regen vor dem sonnenschein, der schritt ins nichts, der sechste sinn, der stotterer, der strand des toten meeres, der tag, an dem der vorhang fiel, der tätowierte mann, der teufelsengel, der traumgefangene, der weg des roten stoffes, der weiße flügel, dick ist das dünn von heute, die dürre in der kehle, die formel auf dem klo, die frau ohne namen, die horror-wg, die immer leuchtenden fenster, die ruhe vor dem sterben, die saubermacherin, die säule des lebens, die seesternräuber, die stumme armee, die tür ohne zugang, die vase mit dem sprung, die verschlossene tür, die verschwindende stufe, die weltreise von opa heumann, die zeit läuft, drei plus eins, du bist nie allein, dunkelgelb, ein hund namens clooney, ein leben auf karteikarten, ein tag im januar, ein zahnloses monster , eis, feueralarm , french line, futter fürs hirn, geschlossene gesellschaft für alle, gestern, heute, morgen, gestreift und gepunktet, gleis 4, gummibären-glück, herr hauber, herz, schlag!, herzhämmern, hilfe! opa spricht nicht mehr, ich trage dich bei mir, jahr für jahr in birmingham, jetzt!, kein erbarmen, kelpie, kinder der nacht, koriander, kräne im morgengrauen, kratzbaum-könig, krieg im krieg, krokodilstränen, krümel auf der fensterbank, laufmasche, licht in zimmer 03, lila laune, maschinenromantik, meine grüne luftmatratze, meine oma und ihre rockergang, misslungen und doch geglückt, mit oder ohne zucker?, mord mit feuerlöscher, morgenstund, mottenlicht, nachts, wenn sie kommen, nektarinen zum frühstück, nicht die hellste kerze auf der torte, notausgang, nur der tod kann dich retten, ochsenbäckchen und wachtelbrüstchen, ohne rote rosen zum bachelor, ohnmacht, paket aus panama, rabenmutter, regenbogenpfützen, rote zahlen, schattenfeuer, schichtwechsel, schokolade ist überlebenswichtig,
sommerblues, spaß ist stärker als schmutz, tags darauf am gelben ziegelsteinweg, totes erwachen, trinkt aus, wir machen urlaub, umgekehrte rollen, und dann kam sie, urlaubsziel: tegernsee, uv-hc3370-f2 bitte hilf mir!, vergebung gibt es nicht, vom mörder zum menschenretter, von castrop-rauxel nach wanne eikel, von ehebrechern und gebrochenen, von schlössern und zerbrochenen fenstern, wem gehört die eifersucht?, wenn das licht angeht, wenn es dreimal klopft, wenn ich könnte, wie ich wollte, wolken jagen, würd ich dich nicht lieben, wärst du tot, zwei tropfen
sechsundzwanzig gedichte mit glossar, einem nachwort von Matthias Fallenstein und Crauss‘ aufsatz AUGUST und ACKER über das entstehen der texte: das im verlagshaus berlin erschienene e_book DIESER JUNGE wurde für den deutschen e_book award 2016 nominiert. preisverleihung wird am 20.10.2016 um 16 uhr in halle 4.1 stand N91 der frankfurter buchmesse sein.
der niederrheinische, von Dincer Gücyeter befeuerte elif verlag hat seine dritte jahresanthologie soeben herausgebracht. lyrik lebt! durstiges wort gegen die flüchtige liebe präsentiert gedichte ua. von Stefan Heuer, Stan Lafleur, Mario Osterland, Dominik Dombrowski, Konstantin Ames und der grossartigen Safiye Can.
Crauss hat neben einem gedicht über Konstantin Kavafis (nach smyrna, bereits erschienen in BUNTE SOCKEN TRAGEN) und einem eifersuchtspoem (von dir) eine Macbeth-bearbeitung beigetragen. “tang, alg, elodeen, / froschgebisse rissen die recken wie drachen / in die tiefe” heisst es in 1|2.
eine ausführliche besprechung des büchleins mit Crauss-lob hat Timo Brandt auf fixpoetry besorgt.
gott, hatte ich diesen kerl lieb!
nach den ersten minuten wollte ich ihn
berühren, ich stellte mir vor, wie umständlich
dieser grosse mund zu küssen sei, die blanken,
weissen zähne zu spüren. nein, ich wollte ihn
ausziehen, sein geschlecht sehn, es betrachten,
mir vorstellen, wie ihr zwei wohl
in einer so geraden, kalten wohnung wie dieser,
wie ihr euch geliebt hattet, wie er sich
schlagen und befriedigen gelassen hatte
von dir,
wie er genösse, gepeinigt zu werden. ich
stellte mir vor, wie er schrie. wer liebte wen mehr.
wie er vor wut schrie und tobte — aber die zwei
minuten bis dahin konnte ich ihn und seine
lieblose einrichtung nicht ausstehn, er brachte
kein wort raus und sagte zuviel. ich wollte ihn
hinauszerren, ihm die klappe verbieten, den mund
mit den vollen lippen schlagen und befriedigt
sehen, dass er im park draussen, unter den bäumen
eine gute figur machte, mit zwanzig den bauch
eines sechzehnjährigen, mit dreiundzwanzig
ganz jugendlich dastand. nur diese wohnung
mit ratgebern im regal wollte ich kleinschlagen,
anzünden. allgemeinwissen: er war dein
liebhaber gewesen. mein gott, ich hatte ihn gern!
manchmal (selten genug) treffen botschaften zufriedener leser direkt beim autor ein und versüssen das harte holz, an dem der dichter allzu häufig zu knabbern hat. so auch bei der LAKRITZVERGIFTUNG, die längst in zweiter und erweiterter auflage zu haben ist.
Steffen Kurz, angestellter in frankfurt/m und selbst schreibender, hatte die juicy transversions neulich im kärnten-urlaub am millstätter see dabei (bild).
Frederik Bornhofen hingegen, philosoph in kiel, trägt das buch in die kneipe: >man scheint gut beraten die LAKRITZVERGIFTUNG in der nähe zu haben, wenn man mal wieder bis fünf keinen schlaf gefunden (jetzt) oder ihn andererseits nie wirklich gesucht hat und es bemerkt, als man doch noch, um drei, zu dieser bar aufgebrochen ist (letzt). da wundert sich Büchners Lena noch: der müde leib findet sein schlafkissen überall, doch wenn der geist müd ist, wo will er ruhen?<
Fabian Weikert philosophiert auf kurzstrecke: literarisch, melancholisch, und manchmal mit moralzitronen. sein blog regt an, eine persönliche playlist aus den einzelnen beiträgen zu erstellen – oder am nächsten markttag vor obst und gemüse ein wenig länger als üblich innezuhalten.
Otto Abts neuer Gedichtband in Haiku und Senryu ist ein Jahreskreis ähnlich dem Film Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling des südkoreanischen Regisseurs Kim Ki-duk: Die Jahreszeiten kommen und gehen, ohne dass man den eigentlichen Wechsel sieht. Man spürt die Veränderung des Wetters, nur selten ein helleres, ein schärferes Licht, ein hervorstechender Ton, der angeschlagen wird.
Das Meditative der Gedichte von Schwester Natur läuft dabei in keinem Moment Gefahr, ins rein Esoterische abzugleiten. Denn einerseits werden konkrete Bauwerke (»Dom zu Massa«), Anlässe (»Ostern in Java«) und Situationen genannt, andererseits verhindern die Haiku und Senryu eine schwelgerische Beliebigkeit oft durch konkrete Anweisungen an den Leser, wie er sich Bilder zu denken hat; nicht nur schön, als reine Oberfläche, als getupfte Aussicht, sondern als auch innerhalb der unterschiedlichen Jahreszeiten ähnlich wiederkehrende Entwicklung oder Handlungsanweisung.
Kulturkreise und kulturelle Erfahrungen des Autors wie des Lesers vermischen und ergänzen sich: was beispielsweise »die alte Linde« (S. 14) nicht vermag, weil sie am Brunnen vor dem Tore fest verankert, in der Heimat verwurzelt ist, lehrt uns die »Buddha-Statue« (S. 7) durch ihr stoisches Blicken ins Weite: das körperliche Stillstehen, das Schweigen auszuhalten, mit ihm umzugehen. Denn Stillstehen bedeutet ja keinesfalls Stillstand. Es sagt: Innehalten, Schauen, Lauschen: schon tropft ein Gamelan-Ton in den anderen (S. 8), strömt ins All und findet im Offenen Heimat, Geborgenheit also, Einfügung.
Dies ist, was Otto Abts Gedichte vermögen: durch eine dezente Reihung uns loszuschicken auf eine nicht immer rein angenehme Gedankenreise, uns aber im unsicheren Augenblick wissen zu lassen, dass wir nicht allein sind auf der Wanderung.
Wem das zu schlicht ist, der überlege, ob er sich Zeit genug gelassen hat. So manches Wort hält eine doppelte Bedeutung bereit – beispielsweise beim Farbmosaik der »Berghänge im Herbstgewand«. »Fest vor dem Abschied« sagt: es ist ein prächtiger, eben festlicher Anblick, die Berge sind aber gleichzeitig starr, erstarrt, tun nichts gegen den Abschied etc. Auch der blaue Himmel ist nicht einfach strahlend und wolkenlos – er ist leer. Er fordert uns auf.
Otto Abt: Schwester Natur mit einem Nachwort von Crauss ist im Buchhandel erhältlich (ISBN 978 3 7412 1189 8) oder über Crauss.