SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 3

figuren brauchen details, die sie im gedächtnis des lesers verankern (W.G. Sebald). beispiel: „der busfahrer war ein dicker karpfen mit einem schnurrbart.“

die romanschriftsteller irren sich, wenn sie glauben, dass ihre leser sich immer wieder die mühe nähmen, die von ihnen sorgfältig beschriebenen gesichter im geiste nachzuzeichnen.
wenn ich lese, sein kopf glich einer umgekehrten zwiebel, so habe ich sofort ein bild; wenn es aber heisst, sein haar war braun, seine stirn niedrig, seine nase schön geschwungen, sein mund grob aufgeworfen, so geht das – an mir wenigstens – ziemlich spurlos vorüber. Christian Morgenstern 1906

William Gaddis‘ werk a frolic of his own (1994, dt: letzte instanz) „besteht nahezu vollständig aus hypernaturalistisch geformten dialogen. selbstverständlich bilden die redebeiträge in diesem roman die wirklichkeit nicht etwa 1:1, nach art eines fiktiven tonbandmitschnitts ab, diese dialoge wirken nur so, als ob. es ist eine vom autor ästhetisch gesteuerte realität. jeder figur seines romans verleiht Gaddis eine unverwechselbare sprecherphysiognomie, sodass er ganz ohne narrative personenzuweisungen auskommt.

anders dagegen James Lee Burke in mississippi jam: »eine flachbrüstige schwarze, wahrscheinlich eine polizistin in zivil, mit dünnen armen und einem mund voller goldzähne diskutierte lautstark mit [Nate]. ihre zerknitterte braune bluse hing lässig über einer dunkelblauen hose. ihr make-up war vom regen verschmiert, und sie trug halbschuhe ohne socken. Nate Baxter versuchte, sich von ihr abzuwenden, doch sie folgte ihm, hatte ihre hände in die schmalen hüften gestemmt, und ihr mund öffnete und schloss sich im strömenden regen.«

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 3

SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 2

auch wenn Sie von sich selbst schreiben: unbedingtes abgewöhnen des ICH: FIGUREN erfinden! so entstehen texte, in denen nicht nur dem ICH etwas passiv geschieht, sondern personen, die aktiv und bewusst handeln. (zuviel ichizismus)

schaffen Sie originale figuren! jeder mensch ist individuell, daher sollten auch charaktere in geschichten einzigartig sein. verwechseln Sie > originalität aber nicht mit originell (ausschliesslich aus einer oder mehrenen auffälligkeiten bestehende figur).

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 2

SCHÖNER SCHREIBEN, ort und zeit

ort und zeit sind die knackpunkte der narrativen künste:

alles geschieht gleichzeitig, der autor muss sich aber notgedrungen auf eine reihenfolge festlegen.

um sich nicht gleich am anfang zu verheddern, muss der autor eine rigorose entscheidung treffen, indem er etwa den ort mit namen nennt oder ihn durch die zeit kennzeichnet: wien, jetzt, wolkenbruch, im aufzug, der wecker klingelt…

ort und zeit gehören zusammen.

im „wirklichen leben“ steht der ort ebenfalls an erster stelle. wird gefragt: wer bist du, so ist das eine frage nach dem woher kommst du. (TEREZIA MORA)

einen sinn für orte und plätze zu haben, beeinflusst eine handlung. es kann sich bei einem beschriebenen ort um ein destillat aus mehreren orten handeln. man braucht einen guten grund, den ort der handlung nicht zu beschreiben. (W.G. SEBALD)

üben Sie sich in anfängen von geschichten: schauen Sie nach, wie berühmte stories beginnen

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SCHÖNER SCHREIBEN, ort und zeit

SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 9-11 (kontrolle und gleichgewicht)

9
Thomas Kling schreibt in botenstoffe: “gute gedichte sind immer produkte des kontrollierten aussersichseins, nicht von innerlicher schlafwandelei”; das gedicht/ der gedanke „fliesst“ also nicht aus mir heraus, ich steuere ihn!

10
und doch: “die wörter wissen mehr von uns als wir von ihnen” (René Char)

11
Durs Grünbein in einer poetikvorlesung: “in der poesie kommt es, wie auf die variablen in mathematischen gleichungen, auf das einzelne wort an. alles kommt darauf an, das wort an der richtigen stelle im vers anklingen zu lassen, nicht zu früh, nicht zu spät.”
verändere ich eine variable/ ein wort, hat das also auswirkungen auf die ganze gleichung/ den ganzen text!

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SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 9-11 (kontrolle und gleichgewicht)

SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 7-8

7
redewendungen und idiome bieten schöne charakterisierungsmöglichkeiten in gedichten oder short stories. John Creely: “ich denke an William Carlos Williams’ antwort, die er einem britischen professor gab, als der ihn nach einer lesung fragte, woher er seine sprache habe: ‚aus dem mund polnischer mütter’ – womit er nicht polnisch meinte, sondern das herbe, krude, gehemmte, schlechte englisch’ der immigrantenfrauen.”

8
achten Sie nicht auf diejenigen, die eine perfekte ( = leblose) sprache haben, sondern hören Sie das poetische heraus bei menschen, die sich in einer sprache behelfen müssen. dazu kann ein legastheniker gehören, der renntner mit zwei n schreibt: das kommt dann vielleicht von der eile, pensionierte haben ja angeblich nie genügend zeit … hören Sie auf türkendeutsch (nicht das tv-klischee dieses akzents!), achten Sie auf wortverbindungen, die es eigentlich nicht und dank der immigrantensprache doch gibt.

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SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 7-8

SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 4-6

4
die „not zu schreiben“ (Uwe Kolbe) und die „lust am text“ (Roland Barthes) soll auf leserseite gleichermaszen spürbar sein, damit sich beim lesen die reize hinter/ zwischen den bedeutungen: klänge, metrische spiele, brüche, bedeutungsdopplungen, notwendige ungeschlachtheit (das gedicht als wunde), überhaupt stilistische rafinessen, geniessen lassen.

5
Hubert Fichte macht sich gedanken über “gedicht oder reklamespruch: es könnte doch ein mann kommen und sagen: was da als gedicht steht ist ja sehr schön. aber in meiner PR-abteilung habe ich genauso gute köpfe, und wenn wir eine neue kampagne machen, machen wir doch genau so etwas wie es dort als gedicht steht. wieso ist das vom Höllerer ein gedicht und die arbeit unseres werbetexters (zb für die grünen, beton brennt) weniger dichtung?” 

6
“nicht deshalb ist etwas ein gedicht”, schreibt Walter Höllerer, “weil es von jemand bestimmtem stammt, dem man zutraut, dass er gedichte schreiben kann, weil er schon andere gedichte geschrieben hat. ich meine auch: beton brennt, ganz gleich, wer es erfunden hat, kann ein gedicht sein, wenn es den vorgang, der zusammenhang, in dem es steht, den vorgang der sensibilisierung nicht nur in richtung einer einzigen funktion [wie bei der werbung] hat, sondern in eine allgemeinere, breitere richtung.”

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SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 4-6

SCHÖNER SCHREIBEN, originalität

originalität/ grenzüberschreitung ist nicht zu verwechseln mit dem „originellen“ als interessantheits-kriterium. ein werk soll ausser welthaltig zu sein der realität etwas neues, eigenes hinzufügen.

zeichen der originalität kann zb. etwas spezielles innerhalb einer figur sein. deutliche beispiele nicht-originaler, sondern eher schablonenhafter charaktere finden sich in groschenheften.

man erwartet von der kunst, dass sie dem bekannten etwas bislang ungestaltetes, etwas neues abtrotzt. gute literatur darf sich nicht in wiederholung erschöpfen, selbst leser, die nur auf unterhaltung aus sind, erwarten von einem buch etwas neues. das unbekannte kann gleich neben dem bereits geformten lauern.

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SCHÖNER SCHREIBEN, originalität

SCHÖNER SCHREIBEN, interessantheit

würden wir bei einem gereimten gedicht das jeweils nächste wort mit sicherheit voraussagen können, wäre das gedicht langweilig. ohne den aufbau einer erwartungsspannung würden wir nicht weiterlesen.

das wertkriterium verlangt, dass literatur nicht langweilig, sondern originell sei. das kann bei gedichten eine sprachliche  schönheit sein, die spannung einer erzählung (wie geht sie aus) oder die geweckte neugier auf einen erkenntnisgewinn (was will mir ein experimenteller/ handlungsloser text vermitteln).

reibungen und härten sollen nicht vorhersehbar sein.

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SCHÖNER SCHREIBEN, interessantheit

SCHÖNER SCHREIBEN, ambiguität

dort, wo dichtung eindeutige aussagen macht, ist sie selten gross und tief. am wahrhaftigsten ist sie, wo sie ein gestochen scharfes röntgenbild (die formulierungen, textaufbau etc) liefert, die diagnose aber offen lässt.
ein werk kann zu anfang komplex wirken, dann besteht der genuss daran aus einem im fortlauf leichteren lesen. es besteht hier aber die gefahr der langeweile.
ein werk kann hingegen eine sich im verlauf steigernde komplexität haben, dann besteht der genuss aus einem sich allmählich entwickelnden verstehen.
trotz mehrdeutigkeit/ ambiguität muss ein werk jedoch nicht schwierig zu lesen sein. mehrdeutig, das heisst auch: tiefsinnig kann auch eine simple story sein oder ein werk, das sich (aus unterschiedlichen gründen, aber aus gründen) selbst widerspricht. aus einer (überwindbaren) widerständigkeit ergibt sich genuss.

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SCHÖNER SCHREIBEN, ambiguität

SCHÖNER SCHREIBEN, allgemeingültigkeit

typen, also nach eigenschaften typische, dh: einseitig gezeichnete charaktere, sind weniger interessant als differenzierte individuen.
allgemeingültigkeit bezieht sich aus dem was eines werkes, das durch das wie der form verstärkt wird. sie kann beispielsweise in der literature engagée, in politischen oder zeitnahen geschichten vorkommen (etwa Bölls Katharina Blum).

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SCHÖNER SCHREIBEN, allgemeingültigkeit

SCHÖNER SCHREIBEN, welthaltigkeit

die dichterische gestaltung von welt hat zwei dimensionen: fülle und tiefe.

der autor kann sich entscheiden zwischen der abbildung einer mehr oder weniger detaillierten aussenwelt und – als spiegelung – einer individuellen innenwelt.

die gefahr zu grosser welthaltigkeit ist das abgleiten ins bloss stoffliche, also die schilderung nicht weiterführender details und motive.

Cees Nooteboom meint: es ist ein stupider irrtum, dass nur, was wirklich weit weg ist, auch exotisch wäre. exotisch ist das, woran man im prinzip nicht teilhaben kann.

es gibt also auch in der kneipe um die ecke oder in der nachbarwohnung (innen)welten zu entdecken!

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SCHÖNER SCHREIBEN, welthaltigkeit

TEXTGESTALTUNG, verständlichkeit

nicht alles, was richtig ist, ist auch verständlich.

die verständlichkeit eines textes beurteilt der leser: seine position, sein vorwissen, sein aufnahmevermögen sind zu bedenken.

formulieren Sie so genau wie möglich, aber nicht genauer als nötig.

wählen Sie wörter, die bekannt sind oder binden Sie vermutlich klärungsbedürftige begriffe so ein, dass ihre bedeutung sich aus dem zusammenhang erschliesst.

schachtelsätze provozieren die vermutung: viel verpackung, wenig inhalt. einfache reihungen hingegen sind wie eine schlaglochstrecke in der argumentation.

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TEXTGESTALTUNG, verständlichkeit

SCHÖNER SCHREIBEN, hauptwörterkrankheit und nebelsätze

besonders wir deutschen leiden an hauptwörterkrankheit und verb-armut. das hauptwort bringt aber erstarrung, während beim zeitwort bewegung und geschwindigkeit liegt. lösen Sie hauptwörter verbal auf, wo es möglich ist!

viele nebensätze werden zu nebelsätzen! eine alte regel gilt auch für moderne texte: neuer gedanke = neuer satz.

finden Sie angemessene, aber nicht übertriebene worte. Mark Twain: „der unterschied zwischen dem richtigen wort und dem beinah richtigen wort ist der gleiche wie der zwischen blitz und glühwürmchen.“

machen Sie aus dem prinzip einen grundsatz: verzichten Sie auf fremdwörter, die leicht durch ein deutsches wort zu ersetzen sind. der thesaurus (als buch, im web oder integriert im schreibprogramm) hilft beim aneignen eines wissens- und wortspeichers.

seien Sie konkret, benutzen Sie Ihre eigene sprache. Kurt Tucholsky: „das geheimnis des guten redners: man brauche gewöhnliche worte – und sage ungewöhnliche dinge!“

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SCHÖNER SCHREIBEN, hauptwörterkrankheit und nebelsätze

SCHÖNER SCHREIBEN, ausdruck

eine dürftige geschichte bleibt dürftig, auch wenn Sie die formulierungen aufblasen.

Georg Christoph Lichtenberg meint dennoch: „ein guter ausdruck ist fast soviel wert wie ein guter gedanke.“
nutzen Sie Ihren passiven wortschatz aus. jeder von uns besitzt einen grossen passiven wortschatz und einen manchmal zu engen aktiven.

als langsam licht in seine augen zu dringen begann ist nicht poetisch, sondern schwülstig. weniger wäre mehr, zb bei sonnenaufgang; als er wieder zu sich kam; als er die augen wieder öffnen konnte etc.
das auge öffnen ist etwas anderes als die augen öffnen und wichtiger im kontext evtl ohnehin das, was “er” dann sieht oder an was er sich nach dem aufwachen erinnert.

anderes beispiel aus einem gefundenen text: gefährlich aussehende hörner – mit hörnern (egal ob am stier oder als hupe) assoziiert man automatisch gefahr, so ist es nicht notwendig, sie gleich gefährlich aussehen zu lassen.

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SCHÖNER SCHREIBEN, ausdruck

SCHÖNER SCHREIBEN, stimmigkeit

stimmig ist ein text, den sich autor wie leser in seiner substantiellen form nicht besser vorstellen können. das ist utopie. wer hats gesagt?

form und inhalt lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten, sie sollen aufeinander abgestimmt sein.

stimmig kann ein werk auch sein, wenn ein disparater inhalt durch eine inhomogene form gespiegelt wird.

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SCHÖNER SCHREIBEN, stimmigkeit