Der Blindflug des Bewusstseins hat keinen Piloten

Thorsten Ries, Assistant Professor im Fachbereich Germanistik der University of Texas at Austin, beschäftigt sich in einer aktuellen Veröffentlichung mit zwei Crauss-Gedichten aus DIE HARTE SEITE DES HIMMELS.

Das Prosagedicht pagefile.sys und das in freien Versen gehaltene Gedicht blackbox des Siegener Dichters Crauss, nebeneinander veröffentlicht in der Sammlung Die harte Seite des Himmels (2018), handeln vom Schreiben – genauer gesagt: vom Schreiben auf digitalen Medien und von einer digitalforensischen Schreibszene.1 Die beiden Gedichte bilden zusammen eine dialektische Struktur: In pagefile.sys spricht das Sprecher-Ich von einem Blindflug des Bewusstseinsflusses, der sich auf einer »speicherkarte«, »irgendwo in einer auslagerungsdatei« »verliert«. [pagefile.sys] ist eine flüchtige Speicher-Auslagerungsdatei auf Windows-Computern, Speicherkarten sind diejenigen heute allenfalls noch in Kameras gebräuchlichen Wechselspeicher, die ein jeder schon einmal irgendwo verlegt, verloren oder verzweifelt gesucht hat, als sie noch gebräuchlich waren. Der Blindflug des Bewusstseins hat keinen Piloten (»gott weiss, wohin wir als nächstes verweht werden. wozu also brauchen wir einen captain«) und führt zu keiner dauerhaften Aufzeichnung, oder zumindest

“Die Datei [pagefile.sys] ist eine so genannte temporäre Speicher-Auslagerungsdatei auf Windows-basierten Systemen. Sie dient dazu, zu große Dateneinheiten aus dem Hauptspeicher auf die Festplatte auszulagern (›virtueller Speicher‹, Swap-Datei), um das System stabiler und effizienter zu machen, so Ries. [pagefile.sys] ist flüchtig, weil sie ständig mit neuen Speicherinhalten überschrieben und regelmäßig gelöscht wird.”

Die beiden Gedichte von Crauss sind ein Anhaltspunkt für das unter Autor:innen inzwischen weit verbreitete Bewusstsein für die Besonderheiten des literarischen Schreibprozesses im digitalen Medium.

Das Buch Hybride Textgenese und digitale Forensik. Philologische, textgenetische und digitalforensische Modellstudien zum literarischen Schreibprozess bei Thomas Kling und Michael Speiergeht der Frage nach, wie Autor:innen der digitalen Gegenwartsliteratur ihre Arbeitsmethoden an digitale Schreibumgebungen angepasst haben, welche Hybridisierungen des Schreibens […] sich dabei unter einem textgenetischen Blickwinkel ausgebildet haben, und welche Herausforderungen sich aus der historischen Materialität” der Produktionsmittel ergeben.

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