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Kategorie: SCHÖNER SCHREIBEN

SCHÖNER SCHREIBEN, sprache, gestus, stil 1

erzählen Sie mehr, aber formulieren Sie weniger!

jeder satz für sich genommen sollte etwas bedeuten. eine schrift sollte nicht den eindruck vermitteln, dass der verfasser poetisch sein wollte. [W.G.SEBALD]

es bedeutet etwas anderes, ob eine frau sagt ich bin schwanger, oder ob sie sagt: ich bekomme ein kind – und es verändert den impuls, ob sie es zu ihrem mann oder zu einem liebhaber sagt!

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 10

seltsame begebenheiten sind interessant für die handlung [W.G. SEBALD]

es ist stets befriedigend, beim lesen einer geschichte etwas zu lernen. Dickens hat das eingeführt: der essay brach in den roman ein. dennoch sollte man „fakten“ im roman nie trauen – sie bleiben, trotz allem, fiktion. [W.G. SEBALD]

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 9

es gibt zwei möglichkeiten, eine handlung zu entwickeln:

  • erst existiert die story, dort hinein wird die figur geschrieben. sie entwickelt sich sozusagen an der handlung entlang (zb Rocky: ausgebrannter boxer erhält die chance zum comeback)
  • zunächst existiert eine figur, aus deren charaktereigenschaften/ konflikten mit der umwelt sich eine handlung ‚ergibt’
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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 8

in einer geschichte kommen meist zwei arten von handlung vor:

  • eine physische aktion (zb. ein diamantenraub / eine verfolgungsjagd);
  • andererseits aber auch eine emotionale aktion, die sich aus der physischen speisen oder sie bestimmen kann. wie geht es der figur, was denkt sie ohne es zu äussern?
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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 7

das äussere leben speist sich aus dem inneren leben und aus einer backstory wound (schlagen Sie den begriff in einem lexikon für filmbegriffe nach): etwas, das der figur vormals geschehen ist, nicht erzählt wird, sondern aus dem erzählten geschlossen werden kann und ihr handeln oder denken bestimmt.

„man denke etwa an den prolog von Faulkners the sound and the fury (1929, dt: schall und wahn): eine ganze familiendynastie wird kurz und knapp skizziert, ihre vergangenheit, gegenwart und mögliche zukunft, eine ahnengalerie, die einzelnen personen in ihrer originalität, ob sie nun im eigentlichen roman noch auftauchen oder nicht. aber klima und milieu sind dadurch vorab definiert.“ [E. Stahl, diskurspogo, 117]

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 6

das (von anderen figuren sichtbare) äussere leben wird in der erzählten story vermittelt.

was man einer figur maximal zumuten kann, hängt unter anderem von der art des textes ab. die fallhöhe einer handlung (mehr staffage als story/ unrealistischer verlauf) vergrössert sich, je mehr man seinen figuren zumutet.

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 5

die figur hat ein inneres leben, auch wenn der text nicht explizit davon spricht. sie hat eine vorgeschichte von ihrer ‚geburt’ bis zum beginn der erzählten story; diese biographie formt ihren charakter!

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 4

das wetter ist durchaus nicht überflüssig in einer geschichte (W.G. Sebald). es kann das gemüt der figur beeinflussen oder eine handlung verstärken/ unterstreichen (wie zb. in Karen Duves regenroman) oder James Lee Burkes mississippi jam:

»es war ein merkwürdiger tag auf dem meer gewesen. der wind kam heiss und trocken aus dem süden, und in der dünung waren die glänzenden rücken von stachelrochen und die bläulich-rosafarbenen luftsäcke von quallen zu sehen, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich von einem sturm landeinwärts richtung küste getrieben wurden. dann fiel das barometer, der wind legte sich schlagartig, und die sonne sah aus wie eine weisse flamme, die im stillen wasser gefangen war. es regnete nur gerade mal fünf minuten, grosse, fette tropfen, die wie bleischrot aufs wasser schlugen, dann war der himmel auch schon wieder klar und heiss.«

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 3

figuren brauchen details, die sie im gedächtnis des lesers verankern (W.G. Sebald). beispiel: „der busfahrer war ein dicker karpfen mit einem schnurrbart.“

die romanschriftsteller irren sich, wenn sie glauben, dass ihre leser sich immer wieder die mühe nähmen, die von ihnen sorgfältig beschriebenen gesichter im geiste nachzuzeichnen.
wenn ich lese, sein kopf glich einer umgekehrten zwiebel, so habe ich sofort ein bild; wenn es aber heisst, sein haar war braun, seine stirn niedrig, seine nase schön geschwungen, sein mund grob aufgeworfen, so geht das – an mir wenigstens – ziemlich spurlos vorüber. Christian Morgenstern 1906

William Gaddis‘ werk a frolic of his own (1994, dt: letzte instanz) „besteht nahezu vollständig aus hypernaturalistisch geformten dialogen. selbstverständlich bilden die redebeiträge in diesem roman die wirklichkeit nicht etwa 1:1, nach art eines fiktiven tonbandmitschnitts ab, diese dialoge wirken nur so, als ob. es ist eine vom autor ästhetisch gesteuerte realität. jeder figur seines romans verleiht Gaddis eine unverwechselbare sprecherphysiognomie, sodass er ganz ohne narrative personenzuweisungen auskommt.

anders dagegen James Lee Burke in mississippi jam: »eine flachbrüstige schwarze, wahrscheinlich eine polizistin in zivil, mit dünnen armen und einem mund voller goldzähne diskutierte lautstark mit [Nate]. ihre zerknitterte braune bluse hing lässig über einer dunkelblauen hose. ihr make-up war vom regen verschmiert, und sie trug halbschuhe ohne socken. Nate Baxter versuchte, sich von ihr abzuwenden, doch sie folgte ihm, hatte ihre hände in die schmalen hüften gestemmt, und ihr mund öffnete und schloss sich im strömenden regen.«

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 2

auch wenn Sie von sich selbst schreiben: unbedingtes abgewöhnen des ICH: FIGUREN erfinden! so entstehen texte, in denen nicht nur dem ICH etwas passiv geschieht, sondern personen, die aktiv und bewusst handeln. (zuviel ichizismus)

schaffen Sie originale figuren! jeder mensch ist individuell, daher sollten auch charaktere in geschichten einzigartig sein. verwechseln Sie > originalität aber nicht mit originell (ausschliesslich aus einer oder mehrenen auffälligkeiten bestehende figur).

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SCHÖNER SCHREIBEN, figuren und charaktere 1

erst nachdem der ort festgelegt ist, treten die figuren auf.
der ort kann durch ein winziges detail bestimmt werden, etwa: „er sitzt still“ (offener oder geschlossener raum, stuhl oder bank, fokus auf einem einzigen sitzplatz)

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SCHÖNER SCHREIBEN, ort und zeit

ort und zeit sind die knackpunkte der narrativen künste:

alles geschieht gleichzeitig, der autor muss sich aber notgedrungen auf eine reihenfolge festlegen.

um sich nicht gleich am anfang zu verheddern, muss der autor eine rigorose entscheidung treffen, indem er etwa den ort mit namen nennt oder ihn durch die zeit kennzeichnet: wien, jetzt, wolkenbruch, im aufzug, der wecker klingelt…

ort und zeit gehören zusammen.

im „wirklichen leben“ steht der ort ebenfalls an erster stelle. wird gefragt: wer bist du, so ist das eine frage nach dem woher kommst du. (TEREZIA MORA)

einen sinn für orte und plätze zu haben, beeinflusst eine handlung. es kann sich bei einem beschriebenen ort um ein destillat aus mehreren orten handeln. man braucht einen guten grund, den ort der handlung nicht zu beschreiben. (W.G. SEBALD)

üben Sie sich in anfängen von geschichten: schauen Sie nach, wie berühmte stories beginnen

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SCHÖNER SCHREIBEN, erzählstruktur

eine enge erzähl- oder handlungsstruktur eröffnet möglichkeiten. nehmen Sie ein erzählmuster oder ein genre und schreiben Sie sich aus ihm heraus. (W.G. Sebald)
Karen Duves regenroman ist zu beginn ein krimi, in der mitte erotisch und ein ganz anderer krimi am Ende.

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SCHÖNER SCHREIBEN ist korbflechterei

eine gute zeichnung muss wie ein flechtkorb sein, aus dem man keinen halm herausnehmen kann, ohne ein loch zu hinterlassen.

—Henri Matisse 1939

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SCHÖNER SCHREIBEN

der dichter schreibt niemals irgendetwas, sondern er schreibt immer etwas bestimmtes. (Michael Niehaus)

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SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 9-11 (kontrolle und gleichgewicht)

9
Thomas Kling schreibt in botenstoffe: “gute gedichte sind immer produkte des kontrollierten aussersichseins, nicht von innerlicher schlafwandelei”; das gedicht/ der gedanke „fliesst“ also nicht aus mir heraus, ich steuere ihn!

10
und doch: “die wörter wissen mehr von uns als wir von ihnen” (René Char)

11
Durs Grünbein in einer poetikvorlesung: “in der poesie kommt es, wie auf die variablen in mathematischen gleichungen, auf das einzelne wort an. alles kommt darauf an, das wort an der richtigen stelle im vers anklingen zu lassen, nicht zu früh, nicht zu spät.”
verändere ich eine variable/ ein wort, hat das also auswirkungen auf die ganze gleichung/ den ganzen text!

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SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 7-8

7
redewendungen und idiome bieten schöne charakterisierungsmöglichkeiten in gedichten oder short stories. John Creely: “ich denke an William Carlos Williams’ antwort, die er einem britischen professor gab, als der ihn nach einer lesung fragte, woher er seine sprache habe: ‚aus dem mund polnischer mütter’ – womit er nicht polnisch meinte, sondern das herbe, krude, gehemmte, schlechte englisch’ der immigrantenfrauen.”

8
achten Sie nicht auf diejenigen, die eine perfekte ( = leblose) sprache haben, sondern hören Sie das poetische heraus bei menschen, die sich in einer sprache behelfen müssen. dazu kann ein legastheniker gehören, der renntner mit zwei n schreibt: das kommt dann vielleicht von der eile, pensionierte haben ja angeblich nie genügend zeit … hören Sie auf türkendeutsch (nicht das tv-klischee dieses akzents!), achten Sie auf wortverbindungen, die es eigentlich nicht und dank der immigrantensprache doch gibt.

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SCHÖNER SCHREIBEN … im gedicht, 4-6

4
die „not zu schreiben“ (Uwe Kolbe) und die „lust am text“ (Roland Barthes) soll auf leserseite gleichermaszen spürbar sein, damit sich beim lesen die reize hinter/ zwischen den bedeutungen: klänge, metrische spiele, brüche, bedeutungsdopplungen, notwendige ungeschlachtheit (das gedicht als wunde), überhaupt stilistische rafinessen, geniessen lassen.

5
Hubert Fichte macht sich gedanken über “gedicht oder reklamespruch: es könnte doch ein mann kommen und sagen: was da als gedicht steht ist ja sehr schön. aber in meiner PR-abteilung habe ich genauso gute köpfe, und wenn wir eine neue kampagne machen, machen wir doch genau so etwas wie es dort als gedicht steht. wieso ist das vom Höllerer ein gedicht und die arbeit unseres werbetexters (zb für die grünen, beton brennt) weniger dichtung?” 

6
“nicht deshalb ist etwas ein gedicht”, schreibt Walter Höllerer, “weil es von jemand bestimmtem stammt, dem man zutraut, dass er gedichte schreiben kann, weil er schon andere gedichte geschrieben hat. ich meine auch: beton brennt, ganz gleich, wer es erfunden hat, kann ein gedicht sein, wenn es den vorgang, der zusammenhang, in dem es steht, den vorgang der sensibilisierung nicht nur in richtung einer einzigen funktion [wie bei der werbung] hat, sondern in eine allgemeinere, breitere richtung.”

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